September – Volksfestzeit (FINK Artikel September 2017)

Nergiz EschenbacherKörper, Psychotherapie

Praxis für Psychotherapie Freising, Nergiz Eschenbacher, Fink-Magazin

Seit Januar 2017 finden Sie unter der Rubrik „Geist und Seele“ im Freisinger Stadtmagazin FINK von mir beantwortete Fragen zu Themen rund um unseren Körper, Geist und Seele. Hier der aktuelle Beitrag im Original zum Herunterladen: http://www.fink-magazin.de/ausgaben/september-2017/

September – Volksfestzeit!

„Volksfest in Freising, die Wiesn in München – was treibt die Menschen in die Bierzelte?“

Lorenz Stiftl (Sprecher der kleinen Wiesn-Zelte) überrascht, dass diese Frage überhaupt gestellt wird, antwortet mit einer unerschütterlichen Selbstverständlichkeit: „weil`s gmiatlich is bei uns“ und „’s ois gibt, was das Menschenherz begehrt“. Er bringt somit komplexe Ursachen menschlichen Handelns auf den Punkt. Mit dem vermeintlichen Hilfsmittel Alkohol werden hier unsere wesentlichen psychologischen Grundbedürfnisse befriedigt. Erst nachdem der Mensch in seiner Geschichte sesshaft wurde, war die Voraussetzung einer schützenden Gemeinschaft geschaffen, um in einem Rauschzustand Feinden nicht als leichte Beute durch das Vernaschen der vom Baum gefallenen süß-gärenden Früchte, in die erwartungsfreudigen Fangzähne zu fallen. 10 000 und 5 000 v. Chr. mit Ackerbau sowie Viehzucht wurde mit dieser Sicherheit im Rücken Alkohol gezielt hergestellt. Wie alte Schriften aus Ägypten, Mesopotamien, China, Griechenland und der Bibel belegen, war Alkohol allerdings von Anbeginn ein beliebtes Rauschmittel, neben ihrem Dienst als Nahrungsmittel und Opfergabe, in vielen kultischen und somit gemeinschaftlichen Ritualen. Er half schon immer Ängste vor den Naturgewalten und den Ungewissheiten des Lebens abzuschwächen und zwischenmenschliche Annäherung zu erleichtern.

Zwar können wir uns heute Tornados, Gewitter und Sonnenfinsternisse logisch wissenschaftlich erklären, für unser psychologisches Wohlbefinden brauchen wir allerdings nach wie vor gute Beziehungen mit dem Gefühl der Zugehörigkeit (Grundbedürfnis: Bindung/Zugehörigkeit), wollen wir vor uns selbst und anderen „gut dastehen“, weil wir so sind, wie wir sein wollen und sollen (Grundbedürfnis: Selbstwert/-achtung) in dem Bewusstsein die eigene Zukunft und mein persönliches Befinden und was mit mir geschieht mitbestimmen zu können (Grundbedürfnis: Kontrolle/Orientierung/Sicherheit) und das Ganze in einem möglichst lustvollen, schmerzfreien Leben (Grundbedürfnis: Lustgewinn/Unlustvermeidung). Als moderne Menschen sind wir meist weit von der Erfüllung dieser idealen „artgerechten“ Lebensbedingungen entfernt und müssen uns stattdessen gegenüber äußeren und auch in unserer Person liegenden Einflüssen täglich bewähren. Den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Unsicherheiten einer individualisierten Welt der Leistungsoptimierung mit ihren Auswirkungen auf das persönliche Erleben von Arbeitsüberlastung, Beziehungsproblemen, Ängsten, Depressionen, Schlafstörungen, Zukunftsängsten, dem ausgebrannt, unbefriedigt und erschöpft sein, entfliehen wir gerne für das Erleben einer „allumfassenden heilen Welt“. Daneben wirken Lärm, Gedränge, finanzielle Ausgaben, Pöbeleien sowie ein Kater am Morgen als minimale Kollateralschaden, die wir in Kauf nehmen. In einem Bierzelt nämlich passiert das Wunderliche, dass ich alle meine Grundbedürfnisse ohne Abstriche und (vermeintlich) unkompliziert erfüllen kann. Genieße ich es mit einigen Schlucken Bier mich und mein Leben als beschwerdefrei zu erleben? Oder liebe ich das starke Gefühl nach Harmonie, Nähe und Zugehörigkeit beim Bruder-/Schwesternschaft trinken, beim Singen und Tanzen? Oder genieße ich in einem Zeitfenster von einigen Stunden, einem Wochenende oder gar zwei Wochen, meine leibliche Existenz in Form von Essen, Trinken und Verbundenheit gesichert zu erleben?

Da verwundert es nicht mehr, „Wenn Festzelte wie Kathedralen wirken“ wie in der gleichnamigen Bilderreihe von Michael von Hassel http://www.sueddeutsche.de/muenchen/oktoberfest-wenn-festzelte-zu-kathedralen-werden-1.2642663-2).

„Alkohol macht lustig. Oder auch nicht. Wieso reagiert jeder Mensch anders auf zu viel Alkohol?“

Das hat mit der Wirkung von Alkohol auf unser Zentralnervensystem zu tun. Genauer geschieht das durch das Filtern und Steuern der millionenfachen Reize – aufgenommen durch unsere fünf Sinne (Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören und Sehen). Diese rasen mit 300 Impulsen pro Sekunde durch unsere Nervenbahnen zum Gehirn und werden hier höchst professionell in wesentliche und nicht so relevante Informationen gefiltert
Aber wo und wie spielt die Wirkung von Alkohol eine Rolle? Alkohol greift in einen gezielten Bereich des Gehirns – nämlich der Signalübertragung – ein und verstärkt oder schwächt diese und beeinflusst so unsere psychische Stimmung. Zum Verständnis müssen wir uns tiefer in die detaillierte Funktionsweise unseres Nervensystems begeben. Über ein riesiges Kommunikationsnetz bestehend aus 100 Milliarden Nervenzellen (sog. Neuronen) ist diese eine höchst genaue Maschinerie zum Transport und zur Verarbeitung von Informationen. Dabei übermitteln sich Neuronen gegenseitig Nachrichten mithilfe von Botenstoffen (sog. Transmitter). Diese Transmitter sind chemische Mittel, die darüber bestimmen, ob die hereinkommenden Reize blockiert/gehindert, weitergeleitet/zugelassen, gestärkt oder geschwächt werden. Alkohol greift empfindlich in dieses präzise Uhrwerk ein, indem es zusätzlich die Beschleunigung oder Bremswirkung verstärkt. Besonders gut erforscht ist dabei die Wirkung vom Botenstoff GABA. Sie hemmt z.B. den „Gas gebenden“ Neurotransmitter Glutamat und führt dazu, dass wir unsere Bewegungen nicht mehr koordinieren können, und unsere Sprachgenauigkeit verabschiedet sich ins allseits bekannte „Lallen“. Dopamin (Glückshormon) kann sich dagegen nun ungehindert „Bahn brechen“ und setzt nach Belieben Endorphine frei und mit ihnen den sogenannten Belohnungseffekt. Unsere Stimmung hellt sich auf, wir werden schmerzunempfindlicher und Ängste sowie Hemmungen können sich lösen. Vor allem wird unsere Selbstkontrolle über starke Gefühle herabgedämpft. Tür und Tor stehen nun offen für alle unsere starken und unterdrückten Gefühle, die nun unberechenbar über uns und unsere Mitmenschen hereinbrechen können. Je nach Persönlichkeit, Geschichte, Alltag etc. werden wir wütend-aggressiv, traurig, umgänglich oder eben lustig. Also nicht der Alkohol macht die Gefühle, sondern „[…] „die Käfigtür geht langsam auf und da zeigt es sich: Das zweite Gesicht[…]“ wie es im Songtext des Rappers Peter Fox heißt, durch die Aufhebung der bisher gut kontrollierten Schranke zu den unbewussten Inhalten unserer Seele.

„Katerstimmung. Sind das nur Kopfweh und ein flauer Magen? Hat am Tag danach auch die Seele Katerstimmung?“

Ein Kater kann bekannter Weise viele Gesichter haben und diese entstehen durch den Abbau und das Verstoffwechseln des Zellgiftes Alkohol aus unserem Körper. Dabei ist vor allem der erste Umwandlungsschritt, in dem Alkohol durch das Enzym Alkoholdehydrogenase (ADH) zu Acetaldehyd umgewandelt wird, auch der Schädlichste für unseren Körper. Dieser ist verantwortlich für die charakteristischen Kopfschmerzen, den beschleunigten Puls, das Herzrasen, die Übelkeit und das Erbrechen. Zudem dehydrieren wir mit dem entwässernden Effekt von Alkohol nicht nur, sondern verlieren wichtige Elektrolyte wie Natrium und Kalium mit dem Ergebnis von Durst, Kraftlosigkeit, trockener (Schleimhäute) Mund/Augen bis hin zu Schwindel und gar Benommenheit. Konzentrationsstörungen, Licht – und Geräuschempfindlichkeit, Magen- und Muskelscherzen, Händezittern und Schwitzen runden dieses körperliche Unwohlsein- Potpourri ab. Einen weiteren niederstreckenden Effekt hat die Wirkung von Alkohol auf unseren Schlaf. Obwohl Alkohol als bewährtes Hausmittelchen unter uns bei Einschlafschwierigkeiten gehandelt wird, so ist er es genau nicht. Alkohol „knockt uns aus“. Wir liegen nicht in den wohligen Armen eines gesunden tiefen Schlafes, sondern befinden uns in der undurchdringlichen Schwärze einer Ohnmacht. Weite Areale unseres Gehirns sind wie gelähmt und verhindern sogar die für unsere psychische sowie physische Gesundheit unerlässlichen Phasen des Tiefschlafes ebenso wie unserer Traumbildung. Unser Immunsystem ist nun nicht mehr in der Lage sich zu regenerieren, unser Gedächtnis verliert die Kontrolle über seine Lern- und Erinnerungsleistungen und all das wird ummantelt von einem psychischen Zustand innerer Unruhe, Unausgeglichenheit, Ängstlichkeit, im schlimmsten Falls begleitet von Halluzinationen (am Tag). Am Katermorgen versucht unsere Seele sich dieser Überforderung mit Reizbarkeit, depressiver Verstimmung und Wellen von starken Ängsten zu entledigen. Die dabei körperliche als auch seelische Ähnlichkeit der Symptome kann leider auch in eine beginnende Angststörung münden. Wie stark über uns all diese Katersymptome einbrechen ist in weiten Teilen genetisch bedingt. Manch einer wünschte sich an solch einem „Morgen danach“ wohl zu den 50% Menschen aus dem pazifischen Raum (z.B. Japan und China) zu gehören, denen dieses „Katergedöns“ aufgrund des fehlenden Enzyms ALDH erspart bleibt. Denn das sofortige Einsetzen von Übelkeit, Schwitzen und Herzrasen bereits bei geringen Mengen von Alkohol verhindert überhaupt, dass es soweit kommen kann.

Achten Sie gut auf sich!

Herzlichst

Nergiz Eschenbacher

Quelle: Schneider, Ralf (2017): Die Suchtfibel, Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler.